Es darf keine Holocaust-Wiederholung geben

Vortrag von Dora Charlotte Köhler im StadtMuseum | Kooperationsveranstaltung mit dem Förderverein Alte Synagoge

Sie sei nicht mehr schuldig am Holocaust, aber verantwortlich, dass er sich in Zukunft nicht wiederhole, erklärte Dora Charlotte Köhler bei ihrem Vortrag am Holocaust-Gedenktag im Einbecker StadtMuseum. Jeder müsse sich intensiv einsetzen und sich aktiv an der Gesellschaft beteiligen, dass es zu keinem Rassismus mehr komme. Eingeladen zur Veranstaltung hatte der Förderverein Alte Synagoge in Einbeck.

Einbeck. Köhler, die jetzt in Mannheim Politikwissenschaften studiert, hatte sich für ihre Zeit nach dem Abitur bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) um einen Auslandsaufenthalt mit politischem und historischem Hintergrund bemüht. Der Verein, gegründet 1958 bei der Synode der evangelischen Kirche in Deutschland, engagiert sich um Versöhnung und Frieden zwischen Deutschland und den Völkern, die im Zweiten Weltkrieg Gewalt erlitten. Mit dem Internationalen Freiwilligendienst, auch »Friedensdienste« genannt, wird das Verständnis und die Solidarität mit den ehemaligen Gegnern und jetzigen Partnern gestärkt. Gemeinsam tritt man für einen gerechten Frieden und die Wahrung der Menschenrechte ein.

Rund 180 Freiwillige sind in Belarus, Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, in den Niederlanden, in Norwegen, Polen, Russland, in der Tschechischen Republik, der Ukraine und in den USA tätig. In Großbritannien, wohin auch Köhler kam, arbeitet ASF zusammen mit der »Association of Jewish Refugees« (AJR). Die Organisation kümmert sich um Holocaust-Überlebende (»Survivors«) und Flüchtlinge (»Refugees«). Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg kamen viele nach England, entweder mit einem »domestic visa«, um einfache Arbeiten unter anderem als Gärtner, Haushälterin oder Putzfrau zu leisten, oder als Kinder mit einem der Kindertransporte. Mit Zügen wurden Jungen und Mädchen zwischen sechs und 16 Jahren ohne ihre Eltern aus Deutschland, Österreich und Tschechien nach England gebracht. Unterkunft erhielten sie bei Gastfamilien. Die Züge erreichten London an der Liverpool Street Station. Dort erinnert heute ein Denkmal daran. Mehr als 70.000 Flüchtlinge – einschließlich den 10.000 Kindern auf den Kindertransporten – kamen in den 1930-Jahren auf der Flucht vor den Nazis nach England. Hinzu kamen nach Ende des Zweiten Weltkriegs Überlebende der Ghettos und Konzentrationslager. Mitglied in der AJR können alle jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückung und ihre Ehepartner sowie die zweite oder dritte Generation werden, die Kinder und Enkel von Holocaust-Überlebenden und Flüchtlingen. Momentan gehören der AJR rund 2.600 Personen an, davon noch mehr als 2.200 aus der ersten, der überlebenden Generation.Von der Organisation werden für die Opfer viele »social services« geleistet, also Sozial-, Wohlfahrts- und Pflegedienste. Die Mitglieder erhalten in vielen Bereichen Unterstützung. So hat das AJR ein landesweites Netzwerk von regionalen Gruppen, in denen es Gelegenheit gibt, Kontakte zu knüpfen und sich miteinander auszutauschen. Mitglieder erhalten auch Unterstützung von Freiwilligen wie von Köhler oder von zahlreichen Volunteers. Beratungen über Sozialrechte oder die Hilfe beim Erhalt der Holocaust-Wiedergutmachungszahlung gehören ebenfalls dazu.

Damit sichergestellt wird, dass der Holocaust nicht in Vergessenheit gerät, engagiert sich AJR vielfältig. Mit Bildungs-, Forschungs- und Erinnerungsprojekten werden unter anderem das Erbe der jüdischen Flüchtlinge aufrechterhalten, die verschiedenen Wege der Überlebenden beleuchtet sowie die Sensibilität der interessierten Menschen erhöht.

Köhler wurde von September 2013 bis September 2014 im AJR-Büro in London im Volunteer Department eingesetzt, half bei vielen Veranstaltungen wie dem Holocaust Memorial Day und sprach mit vielen Überlebenden. Eine ältere Dame, mit der sie sich oft unterhielt, war 1939 mit dem Kindertransport aus Prag gekommen. Darüber berichtete sie Köhler. Organisiert wurden die Zugfahrten aus der Tschechei nach London von Nicolas Winton, der als »britischer Schindler« gilt. 1938 besuchte er zu Weihnachten Prag. Dort gab es nach der Besetzung des Sudetenlandes viele Flüchtlinge. Wahrscheinlich durch seine jüdische Herkunft sensibilisiert, setzte er sich für sie ein. Nach seiner Rückkehr nach England versuchte er, Ausreisen zu organisieren. Jedoch wollte kein Land die Flüchtlinge aufnehmen. Großbritannien erlaubte trotz Rezession wenigstens die Reise der Kinder. Winton beschaffte für rund 700 Jungen und Mädchen Adoptiveltern, und er sammelte Geld für Visa, Kautionen und Reisekosten. Der letzte Kindertransport war für den 3. September 1939 geplant, doch kam er durch den Ausbruch des Krieges nicht mehr zustande. Nach dem Zweiten Weltkrieg sprach Winton nicht mehr über seine Taten. Erst 1988 fand ein Familienmitglied in einem Koffer auf dem Spei-cher des Wohnhauses Material, das veröffentlicht wurde. Der »britische Schindler« erhielt darauf zahlreiche Auszeichnungen und wurde dreimal für den Friedensnobelpreis nominiert.

Oft hatten es die Jungen und Mädchen in ihrer neuen Heimat einfacher als die Erwachsenen, die »ihr ganzes bisheriges Leben« verloren hatten, sagte Köhler. Sie wurden in Gastfamilien aufgenommen, gingen zu Schulen und besuchten später teilweise auch Universitäten. Die 19-Jährige erinnerte sich gern an Gespräche mit einer alten Dame, die in Cambridge in einer Familie aufgenommen wurde. Statt mögliche Studien in der renommierten Universitätsstadt zu betreiben, engagierte sie sich lieber als Lehrerin.

Im 20. Jahrhundert lebten in England vorwiegend orthodoxe und streng gläubige Juden, die ursprünglich aus osteuropäischen Ländern kamen. Die Flüchtlinge aus Deutschland waren oft liberaler und identifizierten sich mehr mit ihrem Heimatland als mit ihrer Religion, sagte Köhler. Diskussionen über verschiedene Ansichten und über die stärkere Identifikation mit dem Heimatland als mit der Religion gab es daher oft.

Köhler lebte in ihrer Zeit in London bei orthodoxen Juden. Sie lernte koscheres Essen, dessen Zubereitung und die Feiertage samt der einzuhaltenden Regeln kennen: An Jom Kippur, dem Versöhnungstag, muss 24 Stunden gefastet werden, beim mehrtägigen Sukkot, dem Laubhüttenfest, wird in Zelten im Garten gespeist, und am Sabbat, dem wöchentlichen Ruhetag, darf nicht gearbeitet werden. Einige verweigern sogar die Elektrizität und das Schreiben während der Zeit der Ruhe.

In ihrer Gastfamilie und in Gesprächen mit ihren Kollegen, die meisten waren ebenfalls orthodoxe Juden, war Köhler oft vom Zwiespalt zwischen modernem Leben samt britischem Humor und den traditionellen Regeln inklusiver der aufopferungsvollen Hingabe fasziniert.

Belastend empfand sie ihre Arbeit und die Gespräche mit den Überlebenden des Terror-Regiemes nicht. Stattdessen war sie begeistert, mit wie viel Freude und Offenheit sie als Deutsche aufgenommen wurde. Zahlreiche Personen freuten sich, mal wieder Deutsch zu sprechen, Neuigkeiten aus ihrem Heimatland zu bekommen oder lyrische sowie musikalische Erinnerungen aus ihrer Kindheit zu wiederholen.

Die Krise in der Ost-Ukraine, einige Kollegen des ASF leisteten dort ihren Friedensdienst, das Attentat auf das jüdische Museum in Brüssel oder die Konflikte in Israel beschäftigten sie sehr. In Gesprächen kam oft auf, dass viele Personen mit jüdischem Glauben, Angst vor zunehmendem Terrorismus haben. Israel sei für sie ein Hoffnungsschimmer und eine Art Rettungsinsel, wo sie ohne Gefahr und Verfolgung leben können. Viele denken darüber nach, Europa zu verlassen und ins »gelobte Land« zu ziehen.

Nicht nur wegen der Offenheit, die ihr entgegengebracht wurde, und der vorhandenen Skepsis von Repressalien gegenüber Andersdenkenden, ärgert sich Köhler über die PEGIDA-Bewegung. Nach der Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts und dem Wissen über Terrorregimes sollte jeder Einzelne – vor allem in Deutschland – für eine tolerante Gesellschaft eintreten. Nachkriegsgenerationen seien nicht schuldig an den Gräueltaten des Nazi-Regimes, tragen aber die Verantwortung, dass Rassismus und Terror nicht mehr vorkommen. In der Gesellschaft kann und soll sich jeder engagieren, so Köhler. Nicht-Einmischen, plakative Parolen und Ignoranz fördern das Gegenteil. Sie will ihre Erlebnisse und Erfahrungen weitergeben, um bei vielen das Bewusstsein gegen Terror, Rassismus und Hass zu stärken. Weiter wünschte sie sich, dass viele ihrem Appell folgen. Frank Bertram, Vorsitzender des Fördervereins Alte Synagoge, und Museumsleiterin Dr. Elke Heege, bedankten sich bei Dora Charlotte Köhler für den informativen Vortrag, für den sie viel Beifall erhielt.oh